Leseprobe aus der phantastischen Erzählung:

 

Briefe aus Amortia

 

ERSTER BRIEF

Amortia im Sommer

Nach langer, ermüdender Fahrt kamen wir endlich an. Einerseits ist man froh, dass man angekommen war und anderseits, dass man kein Ziel mehr hat. Das heißt wir mussten uns erst noch eines suchen! Aber dabei würde man uns behilflich sein.

Jeder der hier ankommt, muss zunächst ins Lager „Neo Sens“, damit alle Formalitäten erledigt werden können.

Jeder Ankömmling wird auf Herz und Nieren geprüft. Sie fragen wirklich nach allem.

Bemerkenswerterweise sind die Immigrationsoffiziere alle weiblichen Geschlechts.

Mein Freund und ich wurden leider nicht zusammen untergebracht. Man sagte uns, dass wir hier nur ein paar Tage bleiben müssten. Wenn wir fertig überprüft wären und unsere Papiere bekommen hätten, könnten wir tun und lassen was wir wollten.

Außer den üblichen Daten zur Person, denen der Eltern, Geschwister und sonstiger Verwandte, interessierte sie sich für die Beziehungen zu Mitmenschen; hier in erster Linie zum weiblichen Geschlecht.

Ich musste mich sehr anstrengen, alles in mein Gedächtnis zurückzurufen!

Mein Betreuungsoffizier hieß Lesley Ash! Sie war mir bei meinen Überlegungen bisher sehr behilflich. Man merkte gleich, dass sie etwas von der Sache verstand.

Sie sagte: „Ich kenne das“, und  „die wenigsten hätten gleich all ihre Beziehungen parat“. Sie sagte: „Wir fangen am einfachsten von hinten an.“

„Was ist hinten? Was heißt: von hinten?“

„Das heißt: mit deiner letzten Beziehung“, sagte Lesley.

„Darüber möchte ich aber nicht so gerne reden“, sagte ich.

Dann ist es genau die, die ich gerne kennen lernen will“, sagte sie.

- Ich war müde! – Ich schwitzte! –

„Können wir nicht andersherum anfangen?“

fragte ich; im Glauben, das ginge sowieso nicht und schon in Gedanken dabei mir Daten und Personen abzurufen.

„Das geht auch“, sagte Lesley. „Aber das dauert etwas länger.“

„Gut, ich fange lieber am Anfang an“, stimmte ich zu: und dann überlegte ich: Was ist eigentlich der Anfang?

Lesley wurde richtig geschäftig! „Du bist am 16. Juli 1950 geboren! – Richtig? - Das war ein Sonntag“, stellte sie fest.

Ich nickte! Woher wusste sie das so schnell? Sie schien meine Gedanken zu erraten:

„Ich habe hier eine Liste, in der ich jeden Tag der letzten vierzig Jahre auf seinen Wochentag bestimmen kann.“

„Warum nur der letzten vierzig Jahre?“ fragte ich.

„Vierzig ist unser Höchstalter“, erwiderte sie. Lesley war etwa fünfundzwanzig! „Du hast also Glück, dass du nicht länger gebraucht hast.“

Ich habe Glück, dachte ich, obwohl ich vorher nie etwas über Amortia gehört hatte.

„Du verstehst noch zu wenig, darum denke nicht über den Sinn nach.“ Schlug Lesley vor.

Wenn du erst das Immigrationsverfahren bestanden und hinter dir hast, weißt du mehr und vieles wird dir klar werden“, versprach sie.

Ich nickte, denn schließlich wollte ich ja bestehen und versuchte deshalb meine Neugier zurückzustecken.

„Ich bin zuhause geboren worden“, sagte ich eifrig.

„Im Bett deiner Eltern?“ fragte sie nach.

„Ja, im Bett meiner Eltern!“

„Seit wann weißt du das?“

Ich dachte nach.

„Ist das wichtig?“ fragte ich.

„Ja, das ist sehr wichtig.“

„Aber darüber habe ich noch nie nachgedacht!. Ich weiß es wirklich nicht.“

„Dein Empfinden für Zeit stellt sich ab dem vierten Lebensjahr ein: das haben die Wissenschaftler herausgefunden.“

Aha, dachte ich, da geht es also lang!

Erinnere dich“, ermahnte sie mich. „Bevor du in die Schule gingst, warst du da im Kindergarten?“

„Nein, ich war nicht im Kindergarten.“

„Wo bist du aufgewachsen?“

„In Kiel, in einem kleinen Dorf bei Kiel“, gab ich an.

„Wo genau?“

„In der Nähe eines kleinen Sees.“ Ich sah den See in Gedanken vor mir.

„Wo ging deine Schwester Elke in die Schule?“

„In die Dorfschule“ sagte ich.

„Gut“, lobte mich Lesley, „hatte Elke Freunde, die sie mit nach Hause brachte? Hat sie auf dich aufpassen müssen? Wart ihr zusammen bei anderen Kindern zu Hause? Seid ihr zusammen auf Familienfeste gegangen? Hast du dort den Gesprächen der Erwachsenen zugehört?“

Sie stellte so viele Fragen – Ich wurde aufgeregt.

„Immer wollte ich bei den Erwachsenen sein. Eigentlich war ich jedes Mal froh, wenn sie zu uns nach Hause kamen. Ich saß dann bei Tante Maria auf dem Schoß und habe immer zugehört. Tante Maria hat mich gedrückt und liebgehalten. Und es tat gut, wenn sie Mama sagte, dass ich ein liebes Kind sei: so ruhig, so freundlich, so niedlich.“

Mein Gott, dachte ich, woher kommt das denn alles plötzlich?

„Sehr gut, weiter!“

„Doris hat immer gesagt, dass es mir gut ginge“, sagte ich.

„Wer ist Doris?“ wollte Lesley wissen.

„Doris“, sagte ich, „Doris war die Tochter unseres Nachbarn.“

„Gut!“ Lesley forderte mich. Ich war erstaunt, dass ich das alles sagte, aber auch froh, dass es Lesley gefiel.

„Wie ging es weiter?“

Ich dachte nach und sah alles vor mir. Wieder saß ich bei Tante Maria auf dem Schoß. Ich war zufrieden: ich wurde gestreichelt: ich kuschelte mich an.

„Wer war sonst noch da, außer Tante Maria?“ Lesley schien aufgeregt zu sein.

„Onkel Ernst, Tante Lydia!“ Mir fielen die anderen Namen nicht mehr ein, sah aber die Gesichter. „Da war eine dicke Frau“, sagte ich, „mit einem dünnen Mann. Sie haben von ihren Töchtern erzählt, die schon im Bett waren. Clarissa war die ältere. „Motero“, rief ich aus. „Motero hießen sie! Genau! Die hatten geschäftlich mit Papa zu tun.“

„Und wer war sonst noch zu Besuch?“

Lesley war unerbittlich. Jedoch machte es mir Spaß. Ich dachte gerne daran. Also rief ich mir den Tag noch einmal ins Gedächtnis zurück. Ich hatte Geburtstag! – Richtig – Die Moterotöchter waren schon im Bett.

„Gördner“, sagte ich plötzlich. „Gördners waren auch da. Der Mann mit dem grauen Bart und der jungen hübschen Frau. Doktor Mittmeyer! Dessen Frau hieß Püppchen, oder zumindest nannte er sie so, die mochte ich auch ganz gerne. Onkel Ernst und Tante Maria – alle waren da.“